Gabriele Sümer

Katalogtext zur Ausstellung „Licht, das uns streift“
Dominique Raack und Katrin Binder im Museum Heppenheim, 2022

Welche Lebensadern vereinen sich zum Stamm einer Palme? Was wohnt jenseits des Wasserspiegels? ... MEHR LESEN

„Licht, das uns streift“

Welche Lebensadern vereinen sich zum Stamm einer Palme? Was wohnt jenseits des Wasserspiegels? Und wie gelangen wir dorthin? Dominique Raacks Fotocollagen und Katrin Binders Scherenschnitte geben Einblicke oder besser: Durchblicke in verborgene Welten, die sich naturwissenschaftlicher Betrachtung entziehen. Ihre Vorgehensweise steht dabei wissenschaftlicher Forschung in nichts nach, was Exaktheit, Ausdauer und das Beschreiten neuer Wege betrifft. Auch das „Forschungsobjekt“ der beiden Künstlerinnen ist das gleiche. Im Fokus steht die Natur in ihrer Vielschichtigkeit, verbunden mit der Frage, wie sie unserer Wahrnehmung zugänglich ist. Es geht um die Beziehung zwischen Mensch und Natur als Wechselbeziehung.

Damit greifen Raack und Binder einen Zwiespalt unserer Lebenswirklichkeit auf: Als Menschen sind wir Teil der Natur, wir haben unseren Platz bei den Säugetieren, in der Ordnung der Primaten. Doch allzu gern blenden wir unsere Naturzugehörigkeit aus. Wir wollen nicht Teil des Systems sein. Und so versuchen wir nicht nur, unsere inneren Instinkte zu überlisten, wir verändern sogar absichtlich die uns umgebende Natur, weil sie dann vermeintlich besser zu unseren Bedürfnissen passt. Was wir erreichen, ist das Gegenteil: Unsere Eingriffe in natürliche Kreisläufe zerstören die Umwelt, schaden dem Klima. Und gefährden so unsere eigene Lebensgrundlage.

Trotz aller Anstrengungen, uns von der Natur zu „befreien“, wissen wir, dass wir mit ihr untrennbar verbunden sind. Darum wohnt in uns eine Sehnsucht, ihr näher zu sein. Näher als das moderne Leben es vorsieht, wo Technik und künstliche Materialien an die Stelle der Natur getreten sind. Immer mehr Menschen leben in Städten oder stadtähnlichen Zusammenhängen, Möglichkeiten echter Naturerfahrung sind rar geworden. Hier schaffen Dominique Raack und Katrin Binder neue Berührungspunkte – mit sehr unterschiedlichen Mitteln und doch mit derselben Wirkung: Wie ein Steinbruch tiefere Schichten freilegt, ermöglichen ihre Collagen und Scherenschnitte das Eintauchen in zusätzliche Ebenen der Wirklichkeit. Dank genauestens komponierter Zusammenfügungen und Herauslösungen werden Fotos von Pflanzenteilen oder Oberflächen zu neuen Organismen, eine Lage Papier wird zu einem mystischen Reich. In jedes ihrer Werke investieren die Künstlerinnen viele Dutzend Arbeitsstunden. Diese in den Kunstwerken gebundene Zeit bekommen wir beim Betrachten zurück. Um die ungewöhnlichen Arbeiten zu verstehen, müssen wir weder Fakten studieren noch Methoden erlernen. Den Schlüssel tragen wir in uns: Es sind urmenschliche Empfindungen, Ahnungen und Mythen.

Insofern überrascht es nicht, dass Dominique Raack ihre auf Naturfotografien beruhenden Collagen auch als „Seelenbilder“ bezeichnet. Was sie zeigen, ist nie eindeutig zu erkennen, sondern nur zu erfühlen. Raack kommt aus der Videokunst, arbeitet aber heute mit Einzelaufnahmen. Eingehend beschäftigt sie sich mit und in der Natur, wo sie in Blättern, Pflanzenquerschnitten, Sand, Regentropfen, Wolken oder Bäumen besondere Strukturen und Formen aufspürt. Fotos davon verdichtet sie in einem aufwendigen digitalen Prozess zu Collagen. Dazu schneidet sie einzelne Bildelemente am Computer aus, setzt sie neu zusammen und schichtet sie in endlosen Lagen übereinander. Bis zu hundert Fotos vereinen sich in einer Collage und wirken im Zusammenspiel wundersam harmonisch. Der Vorteil der digitalen Arbeitsweise: Am Bildschirm scheint das Licht von hinten durch das Motiv hindurch. Indem sie die Deckkraft ausgewählter Bereiche verringert, erzeugt Raack Transparenz und öffnet den Blick auf darunterliegende Ebenen. Auffällig ist die fast monochrome Farbgebung – die Collagen sind geprägt durch Blautöne. Blau gilt der Künstlerin als intuitive, ja weibliche Farbe, wie selbst sagt.

Im Mittelpunkt ihrer Serien „4 Elemente“ und „Soulmapping“ steht eine runde Form, deren Fläche in Zeichnung und Helligkeit mit dem Hintergrund kontrastiert. Der nie ganz perfekte Kreis symbolisiert den ewigen Kreislauf des Lebens aus Entstehen, Wachsen und Vergehen. Dass für die Kreisform Fotos aufgeschnittener Palmstämme, Kakteen und anderer Objekte verwendet wurden, ist nicht mehr zu identifizieren. Da außerdem Bezugsgrößen als Orientierung fehlen, tun sich vielfältige Assoziationen auf. So lassen die Bilder gleichermaßen an eine Zelle unterm Mikroskop denken wie an einen fernen Planeten. Ganz klein oder ganz groß? Das ist im Kosmos der Künstlerin nicht von Bedeutung. Alles hängt zusammen, überlagert und durchdringt sich, ist eingebettet in etwas Ganzem, ist im Gleichgewicht. Einzig das Urelement Wasser wird, bei genauer Betrachtung, in den Bildern direkt sichtbar, etwa als Tropfen oder Strahl. Wie eine Lebensader durchzieht es in unterschiedlichen Zuständen die Collagen.

Wasser ist auch bei Katrin Binder ein zentrales Thema. Während eines Tuschmalerei-Studiums in China hatte sich die Künstlerin mit dem Daoismus auseinandergesetzt und war fasziniert von der Verknüpfung von Malerei, Spiritualität und Natur. Die chinesische Philosophie geht von einem Wirk- und Schöpfungsprinzip namens „Dao“ aus, einer Naturkraft, die alles Leben lenkt. Nur im Einklang mit dieser Kraft kann ein glückliches Leben gelingen, was eine intensive Beobachtung der Natur voraussetzt. Diese Inspiration prägte die Arbeit der Künstlerin nachhaltig. Wieder in Deutschland, schuf sie mit der Reihe „Lied des Wassers“ Scherenschnitte, die vor einem blauen Hintergrund plastisch und lebendig erscheinen. Gegenstand der aus einer Lage weißem Papier geschnittenen Papercuts ist Wasser in ewig fließenden Bewegungen: Wellen wogen hin und her, Schaumkronen tanzen, alles ist im Fluss – eine Metapher auf das Leben und den steten Wandel.

Im Einzelwerk „Hollenteich“ hat das Wasser eine andere Symbolbedeutung. Es markiert den Übergang zwischen Ober- und Unterwelt. Katrin Binder hat hier die Sage der Frau Holle verarbeitet, die heute aus dem Grimmschen Märchen bekannt ist, aber auf weit ältere Mythen einer naturnahen Göttin zurückgeht. Der filigrane und mit zweieinhalb Metern Höhe sehr großflächige Scherenschnitt zeigt Bäume an einem Teich mitsamt ihrem Spiegelbild. Schwebende Kreise davor könnten Schneeflocken darstellen, aufsteigende Luftblasen – oder etwas völlig anderes. Wieder geht es nicht um genaue Dekodierung, vielmehr um das Anklingenlassen von Ahnungen. So hat das freihängende Werk eine nachtblaue und eine erdfarbene Seite, die jeweilige Rückseite lässt sich durch die ausgeschnittenen Stellen erahnen, aber niemals gleichzeitig sehen. Diese Zweiseitigkeit setzt Binder in ihrer Serie „Engelssturz“ fort. Thema ist der gefallene Engel, der zum Teufel wird. In den federähnlichen Papercuts sind vorn und hinten nicht mehr strikt getrennt, sondern durch Faltungen miteinander verschränkt. Die Botschaft: Gut und Böse sind Teile desselben und unauflöslich verbunden, so sehr wir Menschen auch an ein Entweder-oder glauben.

Das Aufdecken solcher Verbindungen, Schicht um Schicht – das ist es, was Katrin Binder und Dominique Raack antreibt. Die Künstlerinnen lenken den Blick hinter das Offensichtliche. Ihre Scherenschnitte und Collagen bereichern uns um das Diffuse, sie zeigen und schaffen Durchlässigkeiten. Auch der Titel der gemeinsamen Ausstellung „Licht, das uns streift“ steht für eine solche Durchlässigkeit, denn er führt unterschiedliche Sinne synästhetisch zusammen: Das Licht, also etwas Visuelles, streift uns wie in einer zarten Berührung.

Damit wird in uns eine Empfänglichkeit angesprochen, die wir in unserem wissenschaftslastigen, naturfernen Leben meinten, hinter uns gelassen zu haben. Was, wenn wir uns auf eine nicht-messbare, nicht-beweisbare Ebene einließen? Unseren Instinkten vertrauten? Die Natur nicht nur berühren würden, sondern uns von ihr zurückberühren ließen? Dann müssten wir uns von unserem Anspruch auf eine Sonderrolle verabschieden, wären Teil des Systems. Wir könnten nur gewinnen.

(Gabriele Sümer)

Gabriele Sümer

Einführung zur Ausstellung „Credo mutabilis“
Katrin Binder und Christiane Hamacher im Kunstbalkon Kassel, 2019

"Credo mutabilis": Die Wortschöpfung, die dieser Ausstellung ... MEHR LESEN

„Credo mutabilis“: Die Wortschöpfung, die dieser Ausstellung ihren Titel gab, beschreibt den Glauben (credo = ich glaube) als etwas Veränderliches (mutabilis = veränderlich). Dabei sollte doch der Glaube nach Meinung vieler etwas Feststehendes sein. Die hier gezeigten Kunstwerke stellen diese Unabänderlichkeit bewusst in Frage: Katrin Binders Papercuts zum Thema Engelssturz und Christiane Hamachers Tier-Ikonen verleihen dem scheinbar Unverrückbaren Flügel und Beine. Die Künstlerinnen setzen an die Stelle der statischen „Ordnung“ nicht etwa Beliebigkeit oder gar Chaos, sondern sie schaffen Bezüge und zeigen Verbindungen, die immer da sind.

In dieser Ausstellung stehen sich zwei gänzlich verschiedene künstlerische Techniken und Themen gegenüber, die doch Berührungspunkte haben und zusammengehören. In ihren Arbeiten beschäftigen sich die beiden Künstlerinnen mit Mythen, die älter sind als alle heutigen Religionen, die aber in diese eingeflossen sind. So ist der christliche Glaube geprägt von Werturteilen, von der Einteilung in Gut und Böse. Auf der einen Seite steht das Gute oder sogar Heilige. Auf der anderen Seite steht das Böse, personifiziert durch den Teufel. Auch in anderen Religionen spielen moralische Bewertungen eine Rolle, allerdings nicht unbedingt mit der gleichen starren Einteilung in entweder/oder, wie sie im christlichen Glauben spätestens seit dem Mittelalter vorherrscht.

Niemand ist nur böse, auch wenn wir das, zum Beispiel bei Berichten über gewalttätige Despoten oder über schlimme Terrorakte, gern glauben. Denn diese Vorstellung macht es einfach, sich abzugrenzen. Und niemand ist nur gut. Wir alle tragen beide Seiten und beide Möglichkeiten in uns. Welche Seite mehr Gewicht hat, hängt zu großen Teilen von Zufällen ab. Manchmal ist es schlicht Glück, wenn ein bestimmtes „falsches“ Verhalten folgenlos bleibt.

Früher habe ich regelmäßig als Gerichtsreporterin Strafprozesse beobachtet. In den Verhandlungen ging es immer auch um die Vorgeschichte des oder der Angeklagten. Diesen Teil fand ich am spannendsten. Gerade wenn ich Parallelen zu meiner eigenen Biografie entdeckte: einen vergleichbaren Familienhintergrund, denselben Studienort, ähnliche Lebenspläne. Und dann ein Punkt, an dem das Leben plötzlich aus den Bahnen geraten war, die Vorzeichen gewechselt hatte – oft durch einen Schicksalsschlag. Dann hatte manchmal eine einzige falsche Entscheidung fatale Folgen. Aber wurde deshalb der Mensch selbst schlecht oder böse? Ein anderer als vorher?

Gerade der christliche Inbegriff des Bösen, der Teufel, zeigt die Tücken einer strikten Trennung. Denn beim Teufel, oder „Satan“, handelt es sich laut Bibel um einen früheren Engel. Nicht um irgendeinen, sondern um einen der höchsten Engel: Luzifer. Er hatte sich Gott widersetzt und wurde für dieses Vergehen aus dem Himmel verstoßen. Der Engelssturz hinab in die Hölle als der größtmögliche Absturz, der fallende Engel als schillernde Figur moralischer Mehrdeutigkeit. Dieses christliche Urmotiv ist das Thema der Papercuts von Katrin Binder. Ihre Werke entstehen durch das Schneiden in mehrmals gefaltetem Papier. Die Oberseite und die Unterseite des Papiers sind gewissermaßen Gegenspieler, die durch die Bearbeitung in Beziehung miteinander treten. So scheint die Unterseite des Papiers durch die Oberseite hindurch zu leuchten. Dieser Effekt – technisch eine Lichtreflexion der roten Unterseite gegen die Rückwand – kann wie ein Symbol der Hoffnung gelesen werden: Der einstige Engel Luzifer, was ja übersetzt „der Lichtträger“ heißt, durchdringt das Dunkle. Die Grenzen von Gut und Böse verschwimmen. Katrin Binder greift hier auch Prinzipien des Daoismus auf, die sie während ihres Studiums in China kennenlernte. Danach stehen sich Yin und Yang wertneutral als Gegensatzpaar gegenüber, stellvertretend für alle anderen Gegensätze. Alt und Jung, Tag und Nacht, Leben und Tod – sie hängen zusammen. Und alles Sein wechselt beständig zwischen den Polen hin und her.

Christiane Hamachers Bilder knüpfen auf andere Weise an christliche Traditionen an. Die Kasseler Künstlerin malt Tiere im Stil christlicher Ikonen. Die Kunst des Ikonen-Schreibens, wie es richtig heißt, hatte sie bei einem Klosteraufenthalt kennengelernt. Einst sollten die christlichen Darstellungen Ehrfurcht vor Jesus, Madonna und den Heiligen wecken. Nun treten Tiere an diese Stelle. Der charakteristische Goldhintergrund der Ikonen rückt dabei immer wieder solche Tiere in den Mittelpunkt, die gemeinhin negativ besetzt sind, und das oft über ein rationales Maß hinaus. Nacktschnecken, Kellerasseln, Mistkäfer oder Ratten gelten als hässlich und ekelerregend, lösen bei manchen sogar Angst aus. Durch die Art der Darstellung – im Ikonenstil, oft überlebensgroß und mit einem Auge für feinste Details – weicht Christiane Hamacher diese negativen Zuschreibungen auf. Ihre Bilder laden dazu ein, im vermeintlich Unattraktiven und Unangenehmen Schönheit und Sinn zu entdecken. Damit geht es auch hier um das Überwinden starrer Dualismen. Um das Aufheben von Einteilungen in niedlich oder eklig, faszinierend oder abstoßend, nützlich oder schädlich. Wenn Zuschreibungen wie Gut und Böse schon bei Menschen zu kurz greifen, dann versagen sie bei Tieren vollends.

Katrin Binders Papierkunst und Christiane Hamachers Ikonen ersetzen das „Entweder-oder“ durch ein „Sowohl-als-auch“. Sie machen Ambivalenzen sichtbar und rufen zu neuen Urteilen und Sichtweisen auf. Der Nagekäfer, im Volksmund Totenuhr genannt, ist nicht wirklich ein Zerstörer, sondern ein Erneuerer. Wenn seine Larven sich als „Holzwürmer“ durch altes Holz fressen, folgen sie dem natürlichen Prinzip der Verwertung. Aus Totem entsteht etwas Neues.

Leben ist Kreislauf und Entwicklung. Aus dem vermeintlich niedrigsten Geschöpf kann ein Anbetungsobjekt werden, aus dem höchsten Engel der Inbegriff des Bösen. Credo mutabilis – Glaube darf veränderlich sein. Denn das Leben ist Veränderung.

Gabriele Sümer

Dr. Brigitte Hammer

Von einer Malerei des „poetischen Geschmacks“
oder von zarten Linien und scharfen Schnitte

Katalogtext zur Ausstellung „Rauschen“
im Kunstverein Centre Bagatelle, Berlin-Frohnau, 2016

Von einer Malerei des "poetischen Geschmacks ... MEHR LESEN

Tradition ist die Bewahrung des Feuers,

nicht die Verehrung der Asche.

Von einer Malerei des „poetischen Geschmacks“
oder von zarten Linien und scharfen Schnitten

Ein knorriger Kiefernstamm wächst in die Bildfläche hinein, drängt in einem sanften vertikalen Schwung zum oberen Bildrand hinaus, seine Äste scheinen in den Bildraum auszutreiben und den betrachtenden Blick in eine schwebende, unauslotbare Tiefe zu lenken. Wir sehen wie in einer Nahaufnahme einen Ausschnitt aus einem gewachsenen, die Kraft der Jahre ausstrahlenden Baumkörper, dessen schrundige Oberfläche einen vitalen Energiestrom in die rechte Bildmitte setzt.

Der aus zahllosen mal zarten, mal kräftigen Pinselsetzungen gewachsene Baumstamm wird von feinen weißen Linien begrenzt, die aus dem Aufhören der Pinselbewegung oder Nicht-Berühren dieses Bereichs des hochempfindlichen Reispapiers entstehen. Diese weißen Linien heben sich im Kontrast zu den Verdichtungen der Tuschelinien deutlich ab und erzeugen eine Art spezifisches Leuchten, als gäbe es eine unsichtbare Lichtquelle, die aus der Tiefe des Bildraumes strömt und den Stamm von hinten bestrahlt.

An einigen Stellen wachsen die horizontal strebenden Seitenäste direkt aus diesen weißen Energielinien heraus, an anderen schärft ein schwarzer Tuschestrich einen spannungsvollen Kontrast und aus diesem besonderen Zusammenspiel von tuschetragenden und tuschefreien Bereichen entwickelt sich eine spezifisch sinnliche und dabei sehr körperhafte Präsenz. Unzählbar erscheinende Ballungen von schwarzen und grauen Strichen gruppieren sich zu radial strahlend angeordneten Kiefernnadeln und animieren das Erinnerungsvermögen an Düfte und Geräusche.

„High Altitude – in der Höhe“ (Kiefer Nr. 1/13) zeigt viele der für Katrin Binders Arbeiten charakteristischen Elemente, die von ihrem Studium der traditionellen Malerei Chinas beeinflusst worden sind. Zu diesem Einfluss schreibt sie selbst in einem Text über ihr Lernen an der chinesischen Kunst: „Was die Komposition betrifft, besteht der markante Unterschied zwischen der chinesischen und der europäischen Malerei darin, dass chinesische Maler gerne leere Räume in ihren Bildern freilassen. Die weißen Räume sind keine Lücken…Sie vermitteln einen poetischen Geschmack, der dem Betrachter Spielraum für Vorstellungen lässt.“

Und es ist eine Lust, diesem „poetischen Geschmack“ in den Bildern von Katrin Binder nach zu denken und nach zu spüren. Welche Räume öffnen sich da! Wo das „Weiß-Sein“ von Flecken auf der Bildfläche sich mit einer tiefen Weis(s)-heit“ verbindet und das europäische Bild-Denken in Perspektive, Vordergrund und Hintergrund mit chinesischer Organisation von Bildflächen aus Fülle und Leere und dem Ausbalancieren elementarer Kräfte eine lebendige, liebevolle Verbindung eingeht. Selbst aus den Abbildungen dieses Kataloges, die eine aus dem Format sich ergebende Verkleinerung erfahren haben, lässt sich diese zum Gleichgewicht strebende Verteilung der Flächenbehandlung ablesen. Hier stehen den aus rhythmischen Pinselstrichen aufgebauten Farbkonzentrationen weiß belassene Bereiche gegenüber, deren Formen von den Schwüngen der Farbflächen gebildet werden. „Der Schwerpunkt der Tuschmalerei ist deshalb einerseits die Darstellung eines Prozesses und andererseits einer meditativen Haltung, beide gezeigt durch die Bewegung des Pinselstriches.“, schreibt die Künstlerin.

Die sich gegenseitig bedingende Dualität von Weiß und Nicht-Weiß oder Tusche und Nicht-Tusche spinnt aber auch eine implizite Linie zu den modernen technisierten Denkwelten, die ihre inneren Strukturen auf der angenommenen Existenz von Eins und Null aufbauen. Jeder weiß heutzutage, welche existenzielle Rolle die „Null“ in diesem dualen System spielt und dass sie als gleich bedeutender Partner zur Eins dasteht.

Schärfer noch als in den Tuschmalereien tritt die Dualität der Elemente bei den Papercuts hervor, denn hier wird die Komponente „Nicht-Papier“ nicht durch weglassen, sondern durch das aktive Schneiden mit einem scharfen Skalpell hergestellt; das zurückbleibende Papier ist hier das „Unberührte“, bringt aber die entscheidende gestalterische Qualität ein. Diese mit schwungvollen Schnitten hergestellten zarten Papiergespinste auf farbig bemalte Papierflächen gelegt, ergeben eine aufregende Schattenbildung mit zusätzlicher Auswirkung auf die Bildgestaltung, was sich eindrucksvoll an der doppelseitigen Detailaufnahme zeigt. Damit wird auch ein Aspekt der Veränderungen in der Zeit eingebracht, denn Licht und Beleuchtung ändern sich permanent, ohne dass dies immer bewusst wahr genommen wird – hier wird es jedoch aufs Schönste sichtbar gemacht. Dabei verbindet Katrin Binder in der Serie „Lied des Wassers“ auch den Gedanken und das Bild des Fließens als Sinnbild ewiger Bewegung mit der Erfahrung, dass Bewegung meistens Geräusche verursacht.

In allen hier vorgestellten Arbeiten ist ein Geräusch – nicht nur in den Titeln, sondern auch in den Assoziationsräumen, die durch Titel und Bild geöffnet werden. Vom knarzenden Fauchen der durch Winde bewegten alten Föhren, über das in romantischen Gedichten besungene Rauschen und Tönen verschiedener Wasser (Ozean, Fluss, Bach, Rinnsal) bis zum Knistern gestärkter Spitzen, das sich beim Betrachten der „Kompasse“ ins innere Gehör drängt. Da tauchen Erinnerungen an die Bilder ernster Könige auf, die in ihren mit Spitzen besetzten Staatsgewändern einem Abenteuer und Untertanen den Auftrag und allerhöchste Erlaubnis erteilten, Segelschiff und Kompass zu nehmen, um für die Majestät ferne Länder zu erobern oder vielleicht sogar in China ein paar Seidenraupen-Kokons zu klauen, um mit diesem Schmugglergeschäft eine eigene europäische Seidenraupenzucht zu ermöglichen.

Auch heute noch – im Zeitalter der satellitengestützten Navigation – bleibt der Kompass ein Synonym für ein Hilfsmittel zur Bestimmung von Richtungen und Zielen. In den Kompassen von Katrin Binder fehlt die Ausrichtung nach Norden – hier sind also alle Wege, die gedacht oder beschritten werden können, gleich bedeutend und von gleichem Rang. In den Papercuts, die das Strömen von Wasser thematisieren, gibt es (noch) eine deutliche, zum Thema passende horizontale oder vertikale Bewegung, die in den Kompassen zugunsten einer stärkeren Rhythmisierung hin zu einem „Muster“ oder einer filigranen, von vielen Symmetrien durchsetzten Struktur aufgegeben worden ist. Von der mittig gesetzten Windrose ausgehend, strahlen diese Muster gleichmäßig in alle Richtungen aus und kommen zu einer dynamischen Ordnung der Formen – einer Vibration in der Ruhe, die „zeitlos schön“ ist.

Auf ganz andere Weise werden Ruhe, Bewegtheit und zeitlicher Ablauf in den „Folded Cranes“ thematisiert und in Bilder gesetzt. Meditative Repetition der immer gleichen Arbeitsvorgänge, einmal begonnen, ohne geplante, vorher gedachte Beendigung, lassen einen nicht vorhersehbaren Strom von den kleinen, auch als Glückssymbol zu verstehenden Papierfiguren entstehen. In weißen Kästen auf den streng angeordneten Feldern montiert, rufen sie eine sich ständig wandelnde Struktur hervor, auf der das Licht berührend und bewegend zu spielen vermag und diesen von spitzen Nadeln durchstochenen Papiervöglein einen Hauch von ungeahnter Lebendigkeit verleiht. Hier berühren sich asiatische Formensprache und traditionelle chinesische Arbeitsweisen mit den Methoden westlicher Konzept-Kunst, die mit täglichen Wiederholungen bestimmter Rituale gegen die Angst vor der verrinnenden Zeit anzuarbeiten versuchten.

In Analysen zum Verhältnis von chinesischer und europäischer Malerei wird oft darauf hingewiesen, dass dem Bedürfnis nach westlichem Selbstausdruck in der Kunst das östliche Streben nach einer Erzeugung von Stimmung und Atmosphäre gegenüber steht. In diesem Sinne erlebe ich die Arbeiten von Katrin Binder als ebenso eindrucksvolle wie überzeugende Synthese der unterschiedlichen Ansätze. Beeindruckend sind sie durch die ausdauernd angewandten Ausdrucksmittel, deren geschulte technische Reife anziehend und faszinierend wirkt. Jeder Pinselstrich, jeder Schnitt ins Papier „sitzt“ oder steht da, wo er „gefühlt“ am richtigen Platz ist. So strahlen die Arbeiten eine anrührende Harmonie und emotionale Intensität aus und sind doch voller spannungsvoller Lebendigkeit und Vitalität. Sie sind überaus anregend – und „berauschend“.

 

Berlin, im März 2016

© Dr. Brigitte Hammer

Katrin Binder

Über die chinesische Tuschmalerei, 2010

Insgesamt zwei Jahre verbrachte ich von 2003-2005 in China am Sichuan Fine Arts Institute, um dort chinesische Malerei zu studieren ... MEHR LESEN

„Berge von Wassern
tauchen auf aus deinem Pinsel
in deinem Herzen.“
Kazuaki Tanahashi

 

Insgesamt zwei Jahre verbrachte ich von 2003-2005 in China am Sichuan Fine Arts Institute, um dort chinesische Malerei zu studieren. Neugier und Naivität, gepaart mit Optimismus hatten mich in dieses Land gebracht, dessen Faszination mich bis zum letzten Tag nicht losließ. Bereits in der Kunsthochschule Kassel verdanke ich meinem Zeichenlehrer Herrn Paulus erste Berührungspunkte mit ostasiatischen Philosophien. Nach Herrn Paulus bedeutete ein ungewolltes Mißlingen einer naturgetreuen, zeichnerischen Wiedergabe durchaus keinen Fehler, sondern einen uns spontan geschenkten Gewinn, dem Wertschätzung gebührte. Denn so, wie an einem Baum alle Blattformen der gleichen Idee folgen, ist doch keines wie das andere, jedes hat eine „fehlerhafte“ Abweichung vom Ideal. Ein Ideal kann man zwar versuchen, bewußt und kontrolliert nachzuzeichen … die lebendige, fehlerhafte Abweichung entsteht aber nur durch Spontanität und freies Zulassen.

„Folge deinem Herzen ohne Vorbehalt
und dein Pinsel wird angeregt sein.
Schreiben und Malen dienen einem einzigen Ziele,
der Offenbarung der angeborenen Güte.“
Tang Hou

Später in China hörte ich ähnliche Worte von Herrn Mei, meinem dortigen Lehrer. Ganz im Gegensatz zu meiner westlichen Erziehung bestand er darauf, den Kopf, die Kontrolle aufzugeben und ganz aus dem Herzen zu malen. Fehler bestünden nicht in einer falschen Wiedergabe der Dinge, sondern darin, daß das Qi nicht frei fließe und ich deshalb keine Kraft in der Pinselführung hätte….damit konnte ich natürlich zu Beginn herzlich wenig anfangen. Meine Mitstudenten rieten mir dringend, zuerst Laozi´s Daodejing und Verse des Konfuzius zu lesen und mich in der Kalligrafie zu üben, bevor ich mich der Malerei zuwenden könnte.

„In der europäischen Tradition werden Kunstwerke häufig in Verbindung gebracht mit Kampf, Leiden und Tragödien. In Ostasien gelten schöpferische Menschen als vollkommen entspannt.“
Kazuaki Tanahashi

Mir wurde immer mehr bewußt, wie anders die chinesische Kultur der unsrigen ist: Im Westen sehen wir uns im Mittelpunkt der Schöpfung. Wir stehen der Welt neugierig gegenüber, erforschen und entdecken sie immer weiter und verändern sie kreativ. In China dagegen sieht sich der Mensch (zumindest traditionell) nicht als Herr und Entdecker der Erscheinungen, sondern ist immer bemüht, sich harmonisch in das gegebene Universum einzufügen. Malen bedeutet dabei, eine liebevolle Einstellung zur Umwelt zu gewinnen, der anzugehören nach chinesischem Verständnis die einzige Sicherheit ist.

Diese Idee entstand aus der Ur-Religion, oder eher Philosophie Chinas, dem Daoismus. Im Zentrum des Daoismus steht das Dao, der unfassbare und unbenennbare Urquell alles Seins, eine substantielle, ordnende Kraft, die allem zugrunde liegt. Aus diesem Urquell entstand die sich immer verändernde und dualistische Welt des Yin und Yang, Nacht und Tag, Berg und Tal, usw. Ohne äußere Einwirkung verwirklicht jedes Wesen natürlicherweise und spontan seinen eigenen Weg und bringt sich mit dem Dao in Einklang.

„Nur in einem ruhigen Teich spiegelt sich das Licht der Sterne.“
Konfuzius

Glückliches Beisammensein ist nur dann gesichert, wenn sich die Welt in einem harmonischen Zustand mit dem Dao befindet. Höchste Verantwortung dafür trägt der Mensch, er muß Wege finden, sich und seine Gesellschaft harmonisch in das gegebene Universum einfügen. Da das Dao für den Menschen nicht benennbar oder verstandesgemäß zu erfassen ist, kann er es nicht besitzen oder kontrollieren. Nur durch Natürlichkeit innerer Ruhe und Spontanität zeigt und entfaltet sich die wunderbare Ordnung der Dinge.

„Wir sollten heiter sein, wenn wir am wenigsten inspiriert sind, denn wir können am kreativsten sein, wenn wir nichts in der Hand und nichts im Sinn haben.“
Kazuaki Tanahashi

Aus diesem Hintergrund entstand die Philosophie des Wu-wei, des „Nicht-handelns“. Es erscheint als sinnlos, die Energie in einem stetig verstandesgeprägten Willensakt, also des Eingreifens in das natürliche Wirken des Dao, zu verschwenden. Das Tun soll folglich intuitiv und dem Lauf der Dinge angepasst sein. Deshalb ist im Sinne der Hingabe an das Dao die Tuschmalerei durch gefühlte Intuition, Improvisation, Willkürlichkeit und unerwarteten Effekt charakterisiert.

„Geist und Seele müssen im Einklang stehen, Geist und Seele völlig ruhig und gelassen sein.“
1679 veröffentlich im Malerei-Lehrbuch „Senfkorngarten“

Die chinesische Malerei scheint uns zuerst in einem weitgehend zweckfreien Raum angesiedelt zu sein. Sie sei nichts als eine freie Skizze, ist aber ein Missverständnis. Die Malerei dient, wie übrigens alle chinesischen Künste, der inneren Einkehr, Entspannung und der Kultivierung des Geistes bzw. Meditation.

„Alle äußeren Errungenschaften und Dinge sind begrenzt
und endlich, nur das innere, geistige Wesen ist Anfang,
Wurzel, Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit und nur letzteres
ermöglicht ersteres.“
Li Ze Hou

Um den Betrachter nicht durch Äußerlichkeiten von seiner selbst abzulenken, verzichten die Maler oft auf naturgetreue Darstellungen oder gar eine schöpferische Kraft. Ein übermäßiger Gebrauch von Farbe, Körperhaftigkeit, Licht oder Schatten wird eher vermieden. Stattdessen heben sie in ihren Bildern oft eine Einfachheit und Zweckfreiheit hervor, die beinahe an Dilletantismus erinnert, aber wortwörtlich dem Betrachter einen einfachen und reinen Geist vermitteln soll. Das Zurückführen auf das Wesentliche ist das Herz der Malerei.

„Was am meisten zählt, ist die Qualität einer Linie – das heißt wie tief, wie stark oder wie ehrlich sie ist. Ob sie gut oder ungewöhnlich aussieht, hat keinerlei Bedeutung.“ Kazuaki Tanahashi

Je sparsamer dabei die Mittel der Darstellung, desto bedeutender und hintergründiger wird der Ausdruck der Linie. Die Reinheit und Kraft des natürlichen, d.h. mühelosen Pinselstrichs zu kultivieren ist daher die oberste Priorität für den Maler. Aus den Linien spricht dann etwas, was nicht an den äußerlichen Dingen sichtbar wird, sondern was in und hinter ihnen steht, nämlich das subjektiv empfundene Wesen der Dinge.

Auf dem äußerst empfindlichen Reispapier, das die feinsten Nuancen wiedergeben kann, läßt sich jeder Pinselstrich nur einmal setzen. Der Pinsel selbst ist sehr weich, Papier und Pinsel reagieren auf leichteste Druck- und Geschwindigkeitsveränderung. In der östlichen Tradition darf der Pinselstrich niemals ausgebessert, manipuliert oder gar weiß übermalt werden. Ein Strich ist also sozusagen eine Sache auf „Leben und Tod“.

„Ein Gemälde ohne negativen Raum ist wie Musik ohne Stille. Damit in der Musik Intensität entstehen kann, muß das Stille, Lautlose besonders gut ausgeführt werden: ein Moment der Stille kann der Höhepunkt einer Aufführung sein.“ Kazuaki Tanahashi

Was die Komposition betrifft, besteht der markante Unterschied zwischen der Chinesischen Malerei und der Europäischen Malerei darin, dass chinesische Maler pflegen, leere Räume in ihren Bildern freizulassen. Diese leeren Räume sind keine Lücken. Sie können Berge umhüllender Dunst, Morgennebel über einem Fluss, der Sonnen- oder Mondschein oder nichts Erkennbares sein. Sie vermitteln einen poetischen Geschmack, der dem Betrachter Spielraum für Vorstellungen läßt.

Mit der Öffnung Chinas dem Westen gegenüber hat natürlich auch die westliche Malerei in China Einzug gehalten. Die Chinesen experimentieren mit diesen neuen Einflüssen und integrieren das neue Gedankengut auf ihre Weise.

Abschließend noch ein Zitat von Jan Zaremba, der einzige Deutsche, der den japanischen Titel „Master of Sumi-E“ trägt:

„I do not strive to be unique; my job is to participate.“
Ich bin nicht bestrebt, einzigartig zu sein,
meine Aufgabe ist es, am Geschehen teilzunehmen.

 

 

Katrin Binder

Über die Mythologie des „Engelsturzes“, der von einem Urthema der Menschheit handelt, der Frage nach der Entstehung von Gut und Böse, bzw. wie die Dualität in die Welt kam, 2019

Über die Mythologie des Engelsturzes ... MEHR LESEN

Nach meinem Studium in China war ich beeindruckt von der Anbindung der Kunst an die dortige Tradition und spirituelle Philosophie. Ich war aufgehoben in einer Gemeinschaft und fragte mich, was sind die Geschichten, die in unserem Kulturkreis erzählt werden und in unserem gemeinschaftlichen Erinnern wirken?

Das Dao De Jing, Laozis Buch, das den Daoismus begründet, schildert die Entstehung der Welt und der Dualität in Vers 42 provokant kurz:

Das dao erzeugt die Eins.
Das Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt die zehntausend Dinge.
Die zehntausend Dinge –
getragen vom yin, umfangen vom yang.
geeint durch das allumfassend fließende qi. *1

Ein Prinzip des Daoismus sind die Begriffe Yin und Yang, die stellvertretend und wertneutral für alle Gegensätze der Welt stehen. Die einzige verlässliche Realität im Daoismus ist die, dass sich das Leben ständig zwischen diesen beiden Gegensatzpolen bewegt und verändert. Zum Beispiel zwischen Tag und Nacht, oder Leben und Sterben.

In der Mythologie des Christentums berichtet der „Engelssturz“ von diesem Urthema der Menschheit, der Frage nach Gut und Böse, bzw. wie die Dualität in die Welt kam. Der Teufel, auch mit Satan (der Ankläger) oder Luzifer übersetzt, war ursprünglich der höchste Engel im Himmel. Er war der Lichtbringer und Morgenstern, ein Bote Gottes (Luzifer ist eine lateinische Übersetzung: lux = Licht und ferre= tragen).

Interessanterweise wurden alle Engel, also auch Luzifer, von Gott geschaffen, kommen also aus demselben Urgrund des göttlich Guten. „Ich bin der Herr und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke Heil und erschaffe Unheil. Ich bin der Herr, der alles vollbringt!“ Jes 45, 6-7

Es gibt in der Bibel erstaunlicherweise nur Erwähnungen über den Engelsturz, aber keinen eigenen Bericht darüber. Zeitpunkt und Kontext, oder wann Luzifer erschaffen wurde, bleiben im Unklaren. Wohl lehnte sich Luzifer gegen Gottes Willen auf und wurde deshalb mitsamt der mit ihm verbündetet Engel aus dem Himmel verstoßen. Im Fallen wurden die Engel zu Dämonen und brachten so das Böse auf die Erde. Luzifer wurde zum diabolischen Teufel, der alsdann nur noch im Sinn hat, die Menschen zum Bösen zu verführen. Mit dem Sturz entstand und trennte sich das Böse vom Guten. Für die Auflehnung Luzifers finden sich in der Bibel verschiedene Gründe. Z.B. aus der Vermessenheit, sich über Gott zu erheben, oder aus Stolz, da Luzifer sich nicht unter die  Menschen stellen wollte (deren Fehler er wohl erkannte). Es heißt, ein tragischer, leiser Zweifel an Gottes Weisheit sei der Auslöser zu allem Unglück gewesen.
Neben diesen recht menschlich erscheinenden Gründen kann der Engelsturz auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, die Gott und Teufel als neutralere Wirkprinzipien beschreiben. Vilem Flusser schreibt in „Die Geschichte des Teufels“:

„Nur ist die Gottheit zeitlos, er ist ganz einfach, und anderswo rollt der Strom des Geschehens. Der Teufel hingegen mag unsterblich sein, doch er hat einen Anfang. Er schwimmt im Strom der Zeit, vielleicht lenkt er ihn, jedenfalls hat er eine Geschichte. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, daß mit dem Teufel die Zeit beginnt, daß sein Erschaffen oder sein Sturz der Auftakt zum Drama der Zeiten ist, daß Geschichte und Teufel eins sind.“ *2

Damit Leben entstehen kann, muss ein unendlicher und zeitloser Gott erst den Raum und die Zeit erschaffen. Eine Welt, die gottgleich wäre, würde sich selbst in Zeitlosigkeit auflösen. Sie würde erlöst ins Nirvana, ins erleuchtete Nichts gehen und aufhören zu existieren.

Aus dem Satz:
„Am Anfang erschuf der Herr den Himmel und die Erde.“ (1 Mos. 1)

wird bei Vilém Flusser :
„Es schuf der Herr den Raum und die Zeit, das heißt den Himmel und die Erde und den Teufel.“ *3

Gott erschafft also den Raum = Himmel und Erde sowie die Zeit = den Anfang, bzw. den Teufel. Erst die Zeit, die Flusser mit dem Teufel gleichsetzt, bringt die Dinge aus dem Bereich der bloßen Vorstellungen („Am Anfang war das Wort“ Joh. 1,1) in die Realität. Es entsteht ein Vorher und Nachher, Veränderung, Dualität, Entwicklung, Evolution und damit Leben *4. Der Engelssturz als Ursprung des Lebens und sogar Universums (Urknall) findet sich auch sinnbildlich im Namen des Teufels wieder. Das Wort stammt von dem griechischen diabolós ab, das bedeutet Durcheinanderwerfer, Verwirrer und dem Verb diaballein = auseinanderbringen, durcheinanderwerfen, entzweien. Es verweist auf das Wesen des Teufels, die Welt zu erhalten, in dem er das göttlich erlöste Eins-Sein entzweit in die Dualität der physischen Dinge.

„Als der Teufel in seinem Sturz den Raum zu durchwirbeln begann, da machte er ihn stofflich.“ *5

In der Mythologie lassen sich Gut und Böse, Gott und Teufel vermeintlich einfach unterscheiden. Heute sieht die Sache komplexer aus, verschiedene Interessen stehen sich gegenüber und lösen sich in diversen Grautönen auf. Je nach Standpunkt und Wissensstand wird dieselbe Motivation zu einer guten oder zur schlechten Tat. Bei genauerer Betrachtung kann es auch im Mythos des biblischen Engelsturzes kein absolut Böses geben, weil das Böse aus dem Guten entstanden ist. Daraus ergibt sich für mich die Hoffnung, dass auch im Bösen noch etwas Gutes ist, dass es immer ein Licht (Luzifer) gibt, dass vielleicht noch durch die Dunkelheit durchscheint.

Es gibt eine sehr alte kanaanitische Legende, die noch vor dem biblischen Engelsturz erzählt wurde und diesen sicher inspiriert hat. Für die Kanaaniter war Luzifer der Lichtbringer und Morgenstern. Sie nannten den ihn Shahar und seinen Zwillingsbruder, den Abendstern Shalim. Shahar verkündete täglich die Geburt der Sonne, bzw. des Sonnengottes mit den Worten „Er ist auferstanden“. Shalim verkündet den Untergang der Sonne, wobei Shalim ganz einfach „Frieden“ bedeutet (hebräisch shalom, arabisch salaam). Der Mythos erzählt auch, dass Shahar die Macht des Sonnengottes begehrte und von diesem aus dem Himmel verstoßen wurde.*6

Was ich daran spannend finde ist, dass sich so ein gewaltiger Mythos, wie der Engelsturz, vielleicht zurückführen läßt auf eine Naturbeobachtung von Morgenstern, Abendstern und Sonne. Und wie schön, dass zur vermeintlich sterbende Sonne vom fallenden Stern das Wort „Frieden“ gesprochen wird.

Die Papercuts „Engelsturz“ sind jeweils aus einem quadratischen Papier entstanden. Durch mehrere Faltungen und Einschnitte entsteht eine zufällige, chaotische, sich überlagernde Form. Dabei wird eine Unterseite zur Oberseite, eine Oberseite verschwindet in eine Unterseite. Vorder- und Rückseite, Gut und Böse bestehen aus demselben Papier, die sich überlagern und überschneiden. Bei Lichteinfall fangen die Bilder an, von hinten zu leuchten.

Endnoten

1 Laotse: Tao te king. Übersetzt von Richard Wilhelm, München, 1998, S. 85

2 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 7

3 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 19

4 „Die Zeit, so sagten wir, ist es, die die Dinge aus dem Bereich der Noumena ins Reich der Phänomene herunterreißt,

und das erscheint uns als eine einleuchtende Schilderung des Sturzes des Teufels.“

Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 18

5 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 26

6 Vgl. Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen – Ein Lexikon von Barbara G. Walker. 1995, S. 630 ff