Header Bild Jugendzentrum JUZ

Engelsturz

Papercut, Mischtechnik

In der Mythologie des Christentums berichtet der „Engelsturz“ von einem Urthema der Menschheit, der Frage nach der Entstehung von Gut und Böse, bzw. wie die Dualität in die Welt kam.
Die Papercuts sind jeweils aus einem quadratischen Papier entstanden. Durch mehrere Faltungen und Einschnitte entsteht eine zufällige, chaotische, sich überlagernde Form. Vorder- und Rückseite, Gut und Böse bestehen aus demselben Papier, die sich überlagern und überschneiden. Bei Lichteinfall fangen die Bilder an, von hinten zu leuchten.

Über die Mythologie des Engelsturzes ... MEHR LESEN

Nach meinem Studium in China war ich beeindruckt von der Anbindung der Kunst an die dortige
Tradition und spirituelle Philosophie. Ich war aufgehoben in einer Gemeinschaft und fragte mich, was sind die Geschichten, die in unserem Kulturkreis erzählt werden und in unserem gemeinschaftlichen Erinnern wirken?

Das Dao De Jing, Laozis Buch, das den Daoismus begründet, schildert die Entstehung der Welt und der Dualität in Vers 42 provokant kurz:

Das dao erzeugt die Eins.
Das Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt die zehntausend Dinge.
Die zehntausend Dinge –
getragen vom yin, umfangen vom yang.
geeint durch das allumfassend fließende qi. 1

Ein Prinzip des Daoismus sind die Begriffe Yin und Yang, die stellvertretend und wertneutral für alle Gegensätze der Welt stehen. Die einzige verlässliche Realität im Daoismus ist die, dass sich das Leben ständig zwischen diesen beiden Gegensatzpolen bewegt und verändert. Zum Beispiel zwischen Tag und Nacht, oder Leben und Sterben.

In der Mythologie des Christentums berichtet der „Engelssturz“ von diesem Urthema der Menschheit, der Frage nach Gut und Böse, bzw. wie die Dualität in die Welt kam. Der Teufel, auch mit Satan (der Ankläger) oder Luzifer übersetzt, war ursprünglich der höchste Engel im Himmel. Er war der Lichtbringer und Morgenstern, ein Bote Gottes (Luzifer ist eine lateinische Übersetzung: lux = Licht und ferre= tragen).

Interessanterweise wurden alle Engel, also auch Luzifer, von Gott geschaffen, kommen also aus demselben Urgrund des göttlich Guten. „Ich bin der Herr und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke Heil und erschaffe Unheil. Ich bin der Herr, der alles vollbringt!“ Jes 45, 6-7

Es gibt in der Bibel erstaunlicherweise nur Erwähnungen über den Engelsturz, aber keinen eigenen Bericht darüber. Zeitpunkt und Kontext, oder wann Luzifer erschaffen wurde, bleiben im Unklaren. Wohl lehnte sich Luzifer gegen Gottes Willen auf und wurde deshalb mitsamt der mit ihm verbündetet Engel aus dem Himmel verstoßen. Im Fallen wurden die Engel zu Dämonen und brachten so das Böse auf die Erde. Luzifer wurde zum diabolischen Teufel, der alsdann nur noch im Sinn hat, die Menschen zum Bösen zu verführen. Mit dem Sturz entstand und trennte sich das Böse vom Guten. Für die Auflehnung Luzifers finden sich in der Bibel verschiedene Gründe. Z.B.
aus der Vermessenheit, sich über Gott zu erheben, oder aus Stolz, da Luzifer sich nicht unter die  Menschen stellen wollte (deren Fehler er wohl erkannte). Es heißt, ein tragischer, leiser Zweifel an Gottes Weisheit sei der Auslöser zu allem Unglück gewesen.
Neben diesen recht menschlich erscheinenden Gründen kann der Engelsturz auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, die Gott und Teufel als neutralere Wirkprinzipien beschreiben. Vilem Flusser schreibt in „Die Geschichte des Teufels“:

„Nur ist die Gottheit zeitlos, er ist ganz einfach, und anderswo rollt der Strom des Geschehens. Der Teufel hingegen mag unsterblich sein, doch er hat einen Anfang. Er schwimmt im Strom der Zeit, vielleicht lenkt er ihn, jedenfalls hat er eine Geschichte. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, daß mit dem Teufel die Zeit beginnt, daß sein Erschaffen oder sein Sturz der Auftakt zum Drama der Zeiten ist, daß Geschichte und Teufel eins sind.“ 2

Damit Leben entstehen kann, muss ein unendlicher und zeitloser Gott erst den Raum und die Zeit erschaffen. Eine Welt, die gottgleich wäre, würde sich selbst in Zeitlosigkeit auflösen. Sie würde erlöst ins Nirvana, ins erleuchtete Nichts gehen und aufhören zu existieren.

Aus dem Satz:
„Am Anfang erschuf der Herr den Himmel und die Erde.“ (1 Mos. 1)

wird bei Vilém Flusser :
„Es schuf der Herr den Raum und die Zeit, das heißt den Himmel und die Erde und den Teufel.“ 3

Gott erschafft also den Raum = Himmel und Erde sowie die Zeit = den Anfang, bzw. den Teufel. Erst die Zeit, die Flusser mit dem Teufel gleichsetzt, bringt die Dinge aus dem Bereich der bloßen Vorstellungen („Am Anfang war das Wort“ Joh. 1,1) in die Realität. Es entsteht ein Vorher und Nachher, Veränderung, Dualität, Entwicklung, Evolution und damit Leben.4 Der Engelssturz als Ursprung des Lebens und sogar Universums (Urknall) findet sich auch sinnbildlich im Namen des Teufels wieder. Das Wort stammt von dem griechischen diabolós ab, das bedeutet Durcheinanderwerfer, Verwirrer und dem Verb diaballein = auseinanderbringen, durcheinanderwerfen, entzweien. Es verweist auf das Wesen des Teufels, die Welt zu erhalten, in dem er das göttlich erlöste Eins-Sein entzweit in die Dualität der physischen Dinge.

„Als der Teufel in seinem Sturz den Raum zu durchwirbeln begann, da machte er ihn stofflich.“ 5

In der Mythologie lassen sich Gut und Böse, Gott und Teufel vermeintlich einfach unterscheiden. Heute sieht die Sache komplexer aus, verschiedene Interessen stehen sich gegenüber und lösen sich in diversen Grautönen auf. Je nach Standpunkt und Wissensstand wird dieselbe Motivation zu einer guten oder zur schlechten Tat. Bei genauerer Betrachtung kann es auch im Mythos des biblischen Engelsturzes kein absolut Böses geben, weil das Böse aus dem Guten entstanden ist. Daraus ergibt sich für mich die Hoffnung, dass auch im Bösen noch etwas Gutes ist, dass es immer ein Licht (Luzifer) gibt, dass vielleicht noch durch die Dunkelheit durchscheint.

Es gibt eine sehr alte kanaanitische Legende, die noch vor dem biblischen Engelsturz erzählt wurde und diesen sicher inspiriert hat. Für die Kanaaniter war Luzifer der Lichtbringer und Morgenstern. Sie nannten den ihn Shahar und seinen Zwillingsbruder, den Abendstern Shalim. Shahar verkündete täglich die Geburt der Sonne, bzw. des Sonnengottes mit den Worten „Er ist auferstanden“. Shalim verkündet den Untergang der Sonne, wobei Shalim ganz einfach „Frieden“ bedeutet (hebräisch shalom, arabisch salaam). Der Mythos erzählt auch, dass Shahar die Macht des Sonnengottes begehrte und von diesem aus dem Himmel verstoßen wurde.6

Was ich daran spannend finde ist, dass sich so ein gewaltiger Mythos, wie der Engelsturz, vielleicht zurückführen läßt auf eine Naturbeobachtung von Morgenstern, Abendstern und Sonne. Und wie schön, dass zur vermeintlich sterbende Sonne vom fallenden Stern das Wort „Frieden“ gesprochen wird.

Die Papercuts „Engelsturz“ sind jeweils aus einem quadratischen Papier entstanden. Durch mehrere Faltungen und Einschnitte entsteht eine zufällige, chaotische, sich überlagernde Form. Dabei wird eine Unterseite zur Oberseite, eine Oberseite verschwindet in eine Unterseite. Vorder- und Rückseite, Gut und Böse bestehen aus demselben Papier, die sich überlagern und überschneiden. Bei Lichteinfall fangen die Bilder an, von hinten zu leuchten.

Endnoten

1 Laotse: Tao te king. Übersetzt von Richard Wilhelm, München, 1998, S. 85

2 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 7

3 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 19

4 „Die Zeit, so sagten wir, ist es, die die Dinge aus dem Bereich der Noumena ins Reich der Phänomene herunterreißt,

und das erscheint uns als eine einleuchtende Schilderung des Sturzes des Teufels.“

Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 18

5 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Göttingen 1996, S. 26

6 Vgl. Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen – Ein Lexikon von Barbara G. Walker. 1995, S. 630 ff

Einführungsrede zur Vernissage im Kunstbalkon

"Engelsturz No. 7" . Papercut, mixed media . 45x45cm . 2018
"Engelsturz No. 3" . Papercut, mixed media . 45x45cm . 2018
"Engelsturz No. 5" . Papercut, mixed media . 45x45cm . 2018
"Engelsturz No. 1" . Papercut, mixed media . 45x45cm . 2018